Manche Erlebnisse bleiben wie eingebrannt in der Erinnerung haften,
auch wenn sie eine sehr lange Zeit zurückliegen. Eine solche Erinnerung
ist sicherlich für jeden Piloten der erste Alleinflug.Viele
Flüge aus den vergangenen 45 Jahren sind in meinem Gedächtnis gelöscht.
Am einfachsten ist das festzustellen, wenn ich in einer ruhigen Stunde
die Fluchbücher durchblättere und die Namen meiner Passagiere lese. Oft
kann ich mich an die Fluggäste, die vor vielen Jahren auf dem zweiten
Sitz gesessen hatten, nicht mehr erinnern.
Anders verhält es sich dagegen mit meinem ersten Alleinflug. Jedes
Detail dieses Erlebnisses ist immer noch greifbar nahe – und vielen
anderen Piloten wird es ähnlich ergehen.
März 1961 auf einem süddeutschen Militärflugplatz. Die stärker
werdende Sonne hat den letzten Schnee verschwinden lassen. Nachdem ich
in der vorangegangenen Flugsaison nahe an die Alleinflugreife
herangekommen war, sind noch einige Schulflüge auf dem
Segelflug-Doppelsitzer Mü 13 E „Bergfalke“ zu absolvieren – zum Teil im
Schlepp einer Do 27 der deutschen Luftwaffe – zum Teil an der
Schleppwinde.
Der 40. Schulflug ist vorläufig der letzte. Mit einer gottgleichen
Miene tritt mein Fluglehrer langsam auf mich zu, deutet auf das
bereitstehende einsitzige „Grunau Baby“ und meint: „Na, dann wollen wir
doch mal sehen…..!“
Alois ist ein ehemaliger Fluglehrer der Reichsluftwaffe und hatte
damals Piloten auf der viermotorigen Focke-Wulf-Condor ausgebildet. Bei
einem Start kam die schwere und etwas untermotorisierte Maschine nicht
richtig vom Boden frei und prallte in eine Böschung. Die Besatzung wurde
schwer verletzt – mein Lehrer verlor dabei ein Auge. Trotzdem fängt er –
mit einer Sondergenehmigung – nach dem Krieg wieder mit dem
Segelfliegen an – inklusive Ausbildung von Flugschülern. Wir alle
bewundern ihn.
Mit einem mulmigen Gefühl steige ich in das enge Cockpit des
Einsitzers, den ich noch nie zuvor geflogen habe. Anschnallen – einige
letzte Instruktionen des Fluglehrers. Ein alter, klappriger Mercedes
bringt das Schleppseil. Da ruft der Lehrer ohne Rücksicht auf
Befindlichkeiten: „Sargdeckel drauf!“ und ein Kamerad bringt die
abnehmbare Kunststoffhaube und befestigt sie auf dem Cockpit.
Letzter Check der Ruder und Bremsklappen – dann ertönt das Kommando
„Aus“. Ich ziehe den Ausklinkknopf für das Schleppseil. „Ein“ – Ich
lasse den Knopf zurückschnellen. Der Starthelfer zerrt kurz am Seil –
ich bin startbereit. Die Tragfläche wird angehoben – ein Starthelfer
schwenkt eine farbige Tafel. Es ist das Signal an den ca. 1000 Meter
entfernten Windenfahrer, mit dem Hochschleppen des Seglers zu beginnen.
Langsam strafft sich das Stahlseil – ich bin äusserst angespannt.
Dann ein Ruck und ehe ich viel überlegen kann, bin ich schon vom Boden
frei. Nachdrücken – Nachdrücken! Ich spüre, wie sich der Segler
aufbäumen will. Mein Lehrer hat mir immer wieder eingetrichtert, dass
zuerst die Sicherheitshöhe erreicht sein muss, bevor ich den
Steuerknüppel etwas mehr zurücknehmen kann.
Jetzt bin ich hoch genug und bringe den Knüppel in eine leicht
gezogene Stellung. Der Steigflug ist so steil, dass ich fast auf dem
Rücken liege. Nach vorne sehe ich nur ein Stück Himmel. Wichtig ist,
während des Hochschleppens nicht zu weit nach links oder rechts aus der
Richtung zu geraten. Also werfe ich immer wieder kurz einen Blick über
die linke Schulter nach unten, wo mir das helle Band der Betonstartbahn
hilft, Kurs zu halten.
Der Schleppwinkel wird etwas flacher – der Segler fängt zu wippen an.
Ich lasse den Knüppel etwas nach und schon beruhig sich der Flieger.
Die Schleppgeschwindigkeit geht zurück – dann Klack – das Schleppseil
hat automatisch ausgeklinkt. Ich ziehe mehrmals den Ausklinkknopf. Wenn
das Seil gerissen wäre, könnte ja noch ein Rest am Flugzeug hängen und
sich beim Landen an einem Geländehindernis verhaken.
500 Meter über Platz zeigt der Höhenmesser. Zuerst einmal ein Stück
schön geradeaus fliegen, hatte der Fluglehrer gesagt. Geschwindigkeit
ca. 90 km/h. Das Gefühl, zu ersten Mal ein Flugzeug alleine zu steuern,
ist unbeschreiblich. Am Horizont kann ich die Kirchtürme meiner
Heimatstadt erkennen. Unter mir Felder, Wälder und Dörfer. Vorsichtig
leite ich eine Linkskurve ein. Der an der Frontscheibe angebrachte
Wollfaden, ein simples aber hoch wirksames „Instrument“ zeigt mir
sofort, ob ich in der Kurve schiebe oder nicht. Schieben bedeutet
zusätzlichen Widerstand – auch das habe ich in den Theoriestunden
gelernt.
Gegenanflug. Jetzt habe ich etwas Zeit, den „Charakter“ meines
Fliegers zu erfühlen. Die Reaktion auf meine Steuerbewegungen erfolgt
prompt und äusserst sensibel. Fingerspitzenarbeit ist gefragt.
Vollkreis nach links. Etwas unbeholfen eiere ich herum – unten warten
die Kameraden bestimmt schon gespannt auf die bevorstehende Landung. 300
Meter über Grund. Weiter geht’s im Gegenanflug, dann drehe ich in den
Queranflug ein. 200 Meter. Jetzt die letzte Linkskurve. Parallel zur
hellen Betonbahn für die Militärjets sehe ich die Markierungen unserer
Segelflugpiste auf dem Rasenstreifen. Geschwindigkeit ca. 85 km/h.
Noch bin ich reichlich hoch. Unten sehe ich den Fluglehrer an der
Landebahn stehen, der seine Arme wie eine Schere nach oben und unten
auf- und zuklappt. Das bedeutet für mich: Bremsklappen ausfahren. Mit
einem Ruck sind die draussen. Es rauscht und rüttelt – dann geht es wie
in einem Fahrstuhl nach unten. Das war zu viel! Ich fahre die Klappen
wieder ein und sofort beruhig sich die Situation.
Erneutes Ausfahren – aber wesentlich dezenter als beim ersten Mal.
Aha – das sieht schon besser aus. Zügig kommt mir die Graspiste
entgegen. Jetzt scheint die Sache zu stimmen. Aber es scheint nur so.
Vor dem Aufsetzpunkt ein kleiner Entwässerungsgraben. Ich bin schon fast
am Boden. Abfangen – das Rad am Rumpf kommt gerade noch über den
Grabenrand – der Sporn knallt gegen die Böschung. Ausrollen – zum Glück
ist nichts passiert.
Der Lehrer und die Kameraden kommen heran, einer nimmt mich nach dem
Aussteigen in den Schwitzkasten und die anderen versohlen mit kräftig
den Hintern. Segelflieger-Tradition nach dem ersten Alleinflug!
Old Eagle
wow tolle geschichte - DEINE geschichte :-)
beim lesen kam mir mein erster alleinflug auch in erinnerung - stimmt - man weiss wirklich noch jede menge details - das wetter - das wie und wo usw usw....(ok so lang is des bei mir noch ned her wie bei dir... aber dennoch :-) )
hintern versohlen ging bei mir allerdings ned - war nur der FI und ich da....dafür kamen nachher vom himmel freudentränen - sind also in voller suppenküche heimgeflogen...
spassig ist - wenn man mal davon erzählt dass man das fast wieder / nochmal erlebt - inkl des gefühls und damit verbundener gänsehaut von der sohle bis zum scheitel :-)
was aber dann auch eine einschneidende und unvergessliche geschichte ist (allerdings ned so viele details im backup) ist der dreiecks-navi-flug vor der prüfung.....ned nur allein im gerät sondern weg vom platz der sonst in sichtbarer nähe ist :-) - meiner zudem etwas erschwerter, weil affenhitze und auf halbem wege die funke den dienst quittierte.... gute anhaltspunkte wie der kühlturm in EDML waren auch "essig" da wg der hitze kein wölkchen daraus zu sehen war...also für den ersten flug weg vom platz, waren erstmal genug features eingebaut.... :-)
always happy landings
PILLE
Hallo Old Eagle
Eine sehr schöne Geschichte! Es macht richtig Spass das zu lesen, Danke dafür!!!
Eine Geschichte, ganz ohne erhobenem Zeigefinger, einfach mal so erzählt. Das ist das was mir besonders daran gefällt. Ich glaube jeder von uns sieht sich selbst beim lesen für kurze Zeit "über den Wolken", und abgehoben vom Alltag.
Seit ich selbst mit der Fliegerei angefangen habe (es ist noch nicht so lange her) versuche ich Freunden, Bekannten oder Kollegen mein Gefühl zu beschreiben, das ich habe, wenn wir "frei wie ein Vogel in der 3. Dimension" z.B. auf Streckenflug gehen um Freunde zu besuchen. Es gelingt mir nicht. Meine Worten reichen dafür einfach nicht. Manchmal habe ich Leuten angeboten einfach mal eine Runde mitzufliegen, aber viele wollen das gar nicht, weil sie z.B. Angst davor haben. Fast genauso stark wie der erste "Solo", wenn nicht noch mehr, ist mir mein erster "Schnupperflug" in meiner Flugschule in Erinnerung geblieben, denn da war mir sofort klar: Das will ich!
Hast Du noch mehr solche Geschichten? Erzähl sie uns doch bitte!
Gruß - Rüdiger
old eagle schrieb:... Viele Flüge aus den vergangenen 45 Jahren sind in meinem Gedächtnis gelöscht.
...März 1961 auf einem süddeutschen Militärflugplatz.
Hallo old eagle,
wenn ich 1961 meinen ersten Alleinflug gemacht hätte, ich war damals 5 Jahre alt, könnte ich heute auf eine 50-jährige Fliegervergangenheit zurück blicken. Dir sind aber offensichtlich die letzten 5 Jahre irgendwie abhanden gekommen.
Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass man den wortgleichen Beitrag bereits seit Januar 2006 in einem anderen Forum von einem anderen Autor lesen kann.
Michael
PS: Natürlich ist das eine nette Geschichte, nur wer hat sie erlebt: old eagle, thermikus, Dietwolf, Karl-Theodor??
old eagle schrieb:Anders verhält es sich dagegen mit meinem ersten Alleinflug. Jedes Detail dieses Erlebnisses ist immer noch greifbar nahe – und vielen anderen Piloten wird es ähnlich ergehen.
März 1961 auf einem süddeutschen Militärflugplatz. Die stärker werdende Sonne hat den letzten Schnee verschwinden lassen. Nachdem ich in der vorangegangenen Flugsaison nahe an die Alleinflugreife herangekommen war, sind noch einige Schulflüge auf dem Segelflug-Doppelsitzer Mü 13 E „Bergfalke“ zu absolvieren – zum Teil im Schlepp einer Do 27 der deutschen Luftwaffe – zum Teil an der Schleppwinde.
FlyingDentist schrieb:
... und wenn ich dann dieses Posting lese, wo zwar die fehlenden 5 Jahre mitgerechnet wurden, dafür aber der erste Alleinflug nicht im März, sondern im Juli stattfand, obwohl man sich ja selbst nach so langer Zeit noch so gut mit Hilfe des Flugbuchs daran entsinnen sollte, möchte ich im Gegensatz zu rlippok old eagle lieber zurufen: "Hast Du noch mehr solche Geschichten? Behalt'sie bitte für Dich!"
Michael
...da bin ich ganz dacor Dr. Watson :-)
dafür sind UNSERE geschichte(n) wenigstens echt und machen beim erinnern ne gänsehaut:-)
PILLE
Wer wissen will, wie es hier mit dem wundersamen Fliegergeschichtenschreiber, der sich jetzt "old eagle" nennt, weitergehen könnte, dem empfehle ich einen Blick auf diese Seite und die Lektüre der Threads eines gewissen "D. Baumgaertners", der dort allen mit seinen Fliegermärchen auf die Nerven fällt und alsbald zu "Thermikus" mutiert.
Im nächsten Fliegerforum würde ich es an seiner Stelle mal mit dem Pseudonym "Münchhausen" versuchen.
Michael
PS: Ähnliches gilt leider auch für den Thread "Was wollen wir im uLForum". Wer's nicht glaubt, siehe hier.
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